Erkaltete Wut oder: Mein erstes Fahrrad 

Mein erstes Fahrrad war ein weißes Klapprad. Ich habe es mit 7 Jahren von meiner Schwester geerbt. Ich war stolz wie Bolle über meine gewonnene Mobiltät, meine Selbstständigkeit. Ich bin damit im näheren Umfeld unserer Wohnung herumgeradelt.

Eines Tages ist meine Mutter mit unserem Familienauto in der engen Garage gegen mein Fahrrad gefahren, das an deren Ende quer an der Wand stand. Der Rahmen war verbogen – ein Totalschaden. Fassungslos sah ich mir mein schrottreifes Fahrrad an, noch fassungsloser musste ich aber bald akzeptieren, dass ich erstmal keinen Ersatz bekam. Sehr lange nicht. Keine Ahnung warum. Es gab keine Diskussion. Ich glaube, ich habe nicht einmal gefragt. Habe ich mich nicht getraut. Da spürte ich schon früh so eine Wand zwischen mir und meinen Eltern. Bestimmte Dinge gingen halt einfach nicht zu fragen oder gar zu beanspruchen. Mein Fahrrad war eine meiner ersten Erfahrungen mit diesen Grenzen: es war auf einmal nicht mehr meins und konnte mir genauso unvermittelt, wie ich es bekommen hatte, wieder genommen werden. Einfach so. Keine Frage, keine Entschuldigung, kein Mitgefühl. Was für eine Machtlosigkeit! Das war mir damals natürlich noch nicht bewusst, kommt mir erst heute in den Sinn.

Ich musste also weite Wege alleine zu Fuß gehen. Zum Turnverein gab es keine Busverbindung, die ich mit meiner Monatskarte hätte nutzen können, also trat ich allwöchentlich mit großer Wut und Mitleid für mich selbst meinen Weg als Martyrer an: sollten meine Eltern doch sehen, was sie davon haben, wenn ich unterwegs zusammenbreche, verloren gehe, sterbe! Ja, so weit gingen meine Gedanken. Und sie waren für mich durchaus real! Aber ausleben konnte ich diese Wut nicht.

Bis heute nicht. „Warum?“, frage ich mich bis heute… Keine Ahnung. War so eine Art ungeschriebenes Gesetz. Mit meinen Eltern konnte und durfte ich bestimmte Fragen nicht besprechen. Habe ich früh gelernt. Oder es gab eine für mich niederschmetternde Antwort, die ich verdrängt habe. Auch ein Schutz, mit dem Frust klar zu kommen, war, solchen Situationen auszuweichen. Häufig erlebt. Wut war auch so ein unerwünschtes Gefühl. Überhaupt Gefühle: damit konnten meine Eltern nicht viel anfangen. Und das haben sie mir früh beigebracht. Auch in diesem Zusammenhang. Rationale Argumente beherrschten unser „Zusammenleben“, oder das was dafür gehalten wurde.

Heute weiß ich nicht nur aus meiner Erfahrungen mit meinen depressiven Phasen, wie wichtig es ist, Gefühle und vor allem diese Wut nicht zu unterdrücken, sondern auszuleben. Es fällt mir immer noch schwer, dies in ungeschützten Räumen, also Menschen gegenüber, bei denen ich mich nicht sicher fühle, zuzulassen. Da kommen dann wieder meine Verlustängste ins Spiel (s. mein Artikel über meine Urängste). Aber ich merke immer deutlicher, dass es mir schadet, wenn ich diese Wut nicht zulasse oder auslebe.

Auch das ist jetzt eine wichtige Aufgabe für meine Heilung: Wut tut gut! Leider ist Wut und Agression in unserer Gesellschaft überwiegend negativ konotiert. Dabei sind diese Gefühle archaische Überlebenstechniken, die uns weiter gebracht haben und uns gut tun. Aber davon ein anderes Mal!

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